Management

ISO 45001: Weil Sicherheit und Gesundheitsschutz nicht verhandelbar sind

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Claudia Furger

Lesedauer

ca. 5 Minuten

Zwischen Betonmischern und Bauplänen leben die Mitarbeitenden des Bau- und Immobilienunternehmens ANLIKER eine Sicherheitskultur, die weit über Schutzhelme und Arbeitsschuhe hinausgeht. Wie das gelingt, erzählen Florian Spichtig, Leiter Führungssupport und Matthias Knotz, Qualitäts-, Umwelt- und Sicherheitsbeauftragter. 

Die Vibrationsplatte donnert über die frisch aufgeschüttete Erde, während im Innern des Rohbaus eine Fräse aufheult. Männer mit gelben Helmen und orangen Westen laufen über die Baustelle – leuchtende Farbtupfer im grauen Geflecht aus Stahl und Beton. Einer von ihnen ist Matthias Knotz. Der Qualitäts-, Umwelt- und Sicherheitsbeauftragte kontrolliert an diesem Herbsttag eine der rund 150 aktiven Baustellen des Unternehmens, hier im solothurnischen Neuendorf am Jurasüdfuss.

Knotz ist Teil eines fünfköpfigen Teams, das sich einem gemeinsamen Ziel verschrieben hat: dem sicheren Arbeiten auf der Baustelle. Denn jeder fünfte Berufsunfall in der Schweiz passiert dort. Stolpern und Stürzen sind dabei die häufigsten Ursachen. Mit kritischem Blick läuft er übers Gelände, fotografiert mal eine Absturzsicherung und gestapelte Bretter, mal locker aufgerollte Kabel. Er prüft, ob Schutzbrillen getragen, Lasten korrekt angeschlagen oder spitze Gegenstände und Öffnungen korrekt abgedeckt werden. Ausserdem achtet er darauf, dass die Baustelle aufgeräumt und sauber ist. Denn Ordnung und Sicherheit sind eng miteinander verbunden. Was ihm auffällt, landet in seiner Risikobeurteilung, die er am Ende des Tages schreibt.  

«Mir ist es wichtig, dass die Kontrollen nicht als Schikane verstanden werden», sagt er. «Es geht um einen konstruktiven Blick von aussen, um Abläufe zu beobachten und den Schutz aller zu gewährleisten.» Fällt ihm ein Missstand auf, sucht er das Gespräch mit dem Bauarbeiter oder dem Polier. «Nur wenn alle die Risiken kennen und die Regeln einhalten, funktioniert die Arbeit. Dann kann man sich aufeinander verlassen – auch unter Termindruck,» sagt Knotz. Und dieser ist in der Baubranche in der Regel hoch. Deshalb besuchen die Sicherheitsbeauftragten jede Baustelle mindestens einmal im Monat und führen so jährlich gut 1’300 interne Audits durch.  

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Florian Spichtig, (Bild: zvg)

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Matthias Knotz, (Bild: zvg)

Die ANLIKER Gruppe gehört in der Schweiz zu den führenden Bau- und Immobilienunternehmungen. 
Sie realisiert Projekte für Grossunternehmen, für Bund und Kantone sowie für zahlreiche institutionelle und private Auftraggeber. Florian Spichtig ist Leiter Führungssupport und verantwortlich für das Qualitäts-, Umwelt- und Arbeitsschutzmanagement. Matthias Knotz ist Qualitäts-, Umwelt- und Sicherheitsbeauftragter und kontrolliert die Baustellen jeweils vor Ort.

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Bild: zvg

Ein Regelwerk als Rückgrat 

Damit ein solcher Arbeits- und Gesundheitsschutz in einem Betrieb mit rund 1’700 Mitarbeitenden funktioniert, braucht es ein System. Die ANLIKER Gruppe setzt deshalb auf die ISO 45001:2018, die ihre frühere Zertifizierung nach OHSAS 18001 im Jahr 2020 ablöste. Denn bei ANLIKER ist man überzeugt: Unfälle sind keine Zufälle und Arbeitssicherheit ist weitgehend planbar. 

Herzstück dieser Sicherheits- und Umweltpolitik ist der sogenannte ANLIKER-Knigge. Ein knapp 120 Seiten starkes Dokument mit 57 lebenswichtigen und nachhaltigen Regeln. Es deckt alles ab – von der Instruktion über das Anschlagen von Lasten an Kranen, das Anbringen von Abschrankungen und Signalisationen bis hin zur korrekten Lagerung von Chemikalien. «Den Knigge haben wir vor gut sieben Jahren in Eigeninitiative eingeführt. Er ist für unsere Prävention von zentraler Bedeutung und geht über die lebenswichtigen Regeln der SUVA hinaus», sagt Florian Spichtig. Er ist Leiter Führungssupport und verantwortlich für das Qualitäts-, Umwelt- und Arbeitsschutzmanagement.  

 

Regeln, die gelebt werden

Ein umfassendes Kompendium an Arbeitsregeln also. Und wie verhindert man, dass es nicht in der Schublade verschwinde? «Indem man es in den Alltag integriert», sagt Spichtig. Darum beginnt jede Anstellung mit der Überprüfung des Sicherheits- und Umweltwissens und nach der Probezeit folgt eine eintägige Schulung, bei der alle Regeln für den spartenspezifischen Einsatz des Mitarbeitenden behandelt werden. Über drei Jahre greift zudem ein systematischer Schulungsplan, der sämtliche sicherheits- und umweltrelevanten Themen auffrischt. Weiter sorgt eine eigens entwickelte E-Learning-App dafür, dass das Wissen lebendig bleibt: Monat für Monat spielt die App auf die Handys und Tablets der Mitarbeitenden eine einzelne Regel aus, erklärt sie kompakt und prüft gleich danach mit einem kurzen Test, ob sie verstanden wurde. «Diese Tools sind unser Rückgrat», sagt Spichtig. «Aber Sicherheit darf sich nicht im Abhaken von Listen erschöpfen. Sie muss erlebbar sein. Und zwar im Umgang miteinander, in der Atmosphäre auf der Baustelle, im Vertrauen ins Team.» Nebst allen Regelwerken könne Sicherheit deshalb nur funktionieren, wenn Führungskräfte sie mittragen und eine Kultur fördern, in der offen kommuniziert und konstruktiv mit Fehlern umgegangen wird, sagt Spichtig weiter. 

Das sieht auch QUS-Beauftragter Matthias Knotz so. Er steht unterdessen auf dem Dach des fünfstöckigen Rohbaus. Die drei Turmdrehkrane scheinen hier zum Greifen nah. Unten dröhnt noch immer die Vibrationsplatte. «Vorleben ist alles», sagt er. Sichere sich der Polier auf der Hubarbeitsbühne nicht mit einem Seil, dann tue es der Bauarbeiter auch nicht. Trage der Vorarbeiter im Sommer keinen Nackenschutz, verzichte der Rest der Mannschaft ebenfalls darauf. Im Rahmen dieser Vorbildfunktion hat das Unternehmen einen besonderen Tag ins Leben gerufen: den Kultur- und Wertetag. Dort diskutieren Kadermitarbeitende nicht nur miteinander, sondern auch direkt mit CEO Roland Dubach über Haltung, Verantwortung und darüber, wie Sicherheit nicht bloss Vorschrift bleibt.

 

Mehr als Helm und Handschuhe

Und die psychische Gesundheit? «Uns ist bewusst, dass Arbeitsschutzmanagement mehr ist als Checklisten und Schutzkleidung», sagt Florian Spichtig. Sie betreffe auch das Wohlbefinden. «Ein Mitarbeiter, der müde, gestresst oder nicht respektiert wird, ist anfälliger für Fehler». Und Fehler können auf der Baustelle gravierende Folgen haben. ANLIKER hat deshalb ein Betriebliches Gesundheitsmanagement entwickelt, das ab 2026 gruppenweit umgesetzt wird. Es umfasst Schulungsmodule zu Themen wie Teamgeist, Respekt oder Achtsamkeit – Themen also, die nicht nur die körperliche, sondern auch die mentale Sicherheit stärken. «Nebst dem Schutz auf der Baustelle, geht es uns auch darum, dass jede und jeder gerne zur Arbeit kommt und sich ernstgenommen fühlt», so Spichtig. «Dann entsteht die Aufmerksamkeit, die wir für sichere Abläufe brauchen.»  

 

Stress am Arbeitsplatz erhöht das Unfallrisiko

Die Suva geht davon aus, dass arbeitsbedingter Stress in 17 Prozent der Unfälle eine zentrale Rolle spielt. Zeitdruck beispielsweise erhöht das Unfallrisiko um das 1,5-Fache, Konflikte um das 1,8-Fache. Doch was ist eigentlich Stress? Stress ist ein persönliches Empfinden, das entsteht, wenn die Balance zwischen äusseren Anforderungen und den zur Verfügung stehenden Ressourcen eines Menschen nicht ausgeglichen ist. Es gibt also kein allgemeingültiges Mass dafür, was Stress ist und auch nicht alle empfinden belastende Situationen gleich. Gerät die Balance zwischen Anforderungen und Ressourcen nur kurzfristig ins Wanken, kann sich der Mensch gut davon erholen. Schwieriger und auch gefährlicher wird es, wenn bestimmte Stressoren über längere Zeit aktiv sind und sich überlagern. 

Quelle: SUVA 

In Neuendorf hat Matthias Knotz seinen Rundgang inzwischen beendet. Mit dem, was er gesehen hat, ist er zufrieden. Er zieht Helm und Weste aus und macht sich auf den Weg zur nächsten Baustelle, während im Hintergrund der Turmdrehkran zentimetergenau Lasten verschiebt. 

 

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