SQS-Wissen

Kultur, Normen und Change: die Ohnmacht der Mächtigen

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Alex Gertschen

Veröffentlicht am: 29.06.2022

Lesedauer

ca. 4 Minuten

Was können die Leiterin oder der Leiter eines Schweizer KMU vom ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush lernen? Zum Beispiel, dass Macht in Ohnmacht umschlägt und der beabsichtigte Wandel einer Gruppe oder Organisation scheitert, wenn «harte» Normen und «weiche» Kultur miteinander unvereinbar sind. 

Lebensmittelsicherheitskultur. Dieses Wortungetüm stand im Zentrum eines früheren Blogbeitrags, der das Zusammenspiel von Normen und Unternehmenskultur unter die Lupe nahm. Zum einen zeigten wir anhand der Rivella AG und der KADI AG auf, dass Normen zur Lebensmittelsicherheit nur dann ihre Wirkung entfalten, wenn sie im Einklang mit der Unternehmenskultur stehen. Zum anderen argumentierte der langjährige SQS-Auditor René Eisenring, die ISO 9001-Norm könne die Entwicklung einer solchen Kultur fördern, in der sich die Mitarbeitenden verantwortlich fühlten und entsprechend handelten. Denn im Gegensatz zu den Spezialnormen öffnet die ISO 9001 den Blick auf das ganze Unternehmen und ist relativ offen, was einem Normenverständnis entgegenwirkt, bei dem es vor allem ums Abhaken von Kästchen am Tag des Audits geht. 

Kosten und Nutzen von Normen

Aus einer ökonomischen Perspektive erfordert das Zusammenspiel von Normen und Kultur eine Abwägung von Kosten und Nutzen. Normen engen den individuellen Spielraum ein. Das hat den Vorteil von Verlässlichkeit und Konstanz, ist aber auch mit Kosten bzw. entgangenem Nutzen verbunden: zum Beispiel dem Kontrollaufwand oder Mitarbeitenden, für die das Protokoll im Zweifel wichtiger ist als Kreativität und Innovation. Kultur entspricht jener «weichen» und schwer greifbaren Substanz, die in einem Unternehmen omnipräsent ist und sich auch in all jenen Ecken und Winkeln ausbreitet, wo die «harten» Normen nicht hinkommen, wo der oder die Einzelne gemäss den eigenen Gewohnheiten, Werten und Interessen relativ frei waltet. 

Jede Unternehmensleitung ist mit der Frage konfrontiert, wie sie mit diesen Handlungsspielräumen der Mitarbeitenden – die auch die Grenzen der eigenen Macht bedeuten – umgeht. Ignoriert sie sie, oder versucht sie auf sie einzuwirken? Bewertet sie sie positiv oder negativ? Fördert sie sie, oder schränkt sie sie ein? Das Beispiel der Lebensmittelsicherheit illustriert, wie zentral die Frage ist, wenn es um Verlässlichkeit und Konstanz geht. Nicht minder wichtig ist sie, wenn es um «Change» geht – den bewussten und zielgerichteten Wandel einer Organisation. Dies lässt sich anhand eines anderen Beispiels zeigen, das nur auf den ersten Blick abwegig erscheint: den Versuch des damaligen Präsidenten George W. Bush (2000-2008), im Irak eine Demokratie aufzubauen. 

Change im Irak
Demokratie als Worthülse

Demokratie als Worthülse

Im März 2003 griff eine von den USA angeführte Militärkoalition den Irak an. Der Diktator Saddam Hussein wurde gestürzt, gefangen genommen und 2006 hingerichtet. Bis zum offiziellen Abzug der US-Truppen im Dezember 2011 gingen die Toten in die Hunderttausenden und die finanziellen Kosten in die Hunderten von Milliarden Dollar. Im Dezember 2005 wurden die ersten, im Oktober 2021 die vorerst letzten Parlamentswahlen durchgeführt. Doch eine Demokratie ist das von Instabilität, Gewalt, Korruption und Armut geplagte Land bis heute nur auf dem Papier. Der angestrebte Wandel ist katastrophal misslungen. 

Aus der gescheiterten Demokratisierung des Iraks können für hiesige Unternehmensleiterinnen und -leiter unter anderen folgende vier Lehren gezogen werden.

Lehre 1: Wähle Reform vor Revolution 

«Technologische Revolution», «disruptive Innovation»: Wandel wird in der Wirtschaft positiv, nicht selten als sexy betrachtet. Das Silicon Valley bietet viel Stoff zum Träumen! Aber revolutionärer oder disruptiver Wandel, wenn innert kurzer Zeit eine Ordnung durch eine neue ersetzt wird, ist in den meisten Fällen mit hohen Kosten verbunden und für die Betroffenen traumatisch. Die Reform klingt weniger verheissungsvoll als die Revolution und Disruption. Sie entspricht dem nüchternen Blick, der ein Abwägen von Nutzen und Kosten des Wandels ermöglicht und ist deshalb vorzuziehen – auch wenn Unternehmen oft Getriebene ihres Umfelds sind und die Radikalität und Geschwindigkeit ihres Wandels nicht völlig autonom bestimmen können.

 

Lehre 2: Kenne die Ausgangslage und das Ziel 

Wer sind die Leute und woraus besteht die Ordnung, die es zu wandeln gilt? Welches ist das Ziel, wie und bis wann soll es erreicht werden? Und wollen die Betroffenen den damit verbundenen Wandel überhaupt? Die gescheiterte Demokratisierung des Irak legt zwei sich ergänzende Interpretationen nahe. Zum einen vermochten die USA diese Fragen nicht oder nur unzureichend zu beantworten. Sie kannten den Irak und die dort lebendenden Kulturen zu wenig, um realistische und breit akzeptierte Ziele zu definieren und zu erreichen. Zum anderen kannten sie die lokalen Bedingungen und Bedürfnisse durchaus, doch ignorierten sie sie, um die eigenen Vorstellungen des Wandels umzusetzen. Damit ist eine dritte Lehre verbunden: 

 

Lehre 3: Lasse dich nicht von deiner Macht verführen 

Macht bedeutet die Fähigkeit einer Person oder Organisation, andere dazu zu bringen, etwas gegen den eigenen Willen zu tun. Der Wandel im Irak wurde primär durch die überwältigende militärische und ökonomische Macht der USA vorangetrieben. Dass er dennoch gescheitert ist, verweist auf zwei Dinge. Der Einsatz «harter» Macht (wie es Waffen und Dollars sind) ist nicht nur kostspielig, sondern für einen nachhaltigen Wandel wenig effektiv. Was es braucht, ist die sogenannt «weiche» Macht. Darunter ist die Fähigkeit zu verstehen, Leute dazu zu bringen, das zu wollen, was man selber will. Für Unternehmensleiterinnen und -leiter bedeutet dies: Sie können ihre Entscheidungsbefugnisse und finanziellen Ressourcen durchaus für den Wandel einsetzen. Soll dieser aber effizient und nachhaltig erzielt werden, ist es entscheidend, dass die Mitarbeitenden sich die Ziele zu eigen machen – oder sie gleich selber mitgestalten. Glaubwürdigkeit, Anerkennung und Überzeugungskraft sind für den Wandel die wichtigsten Ressourcen einer Führungsperson. 

 

Lehre 4: Normen sollten von der Kultur abweichen – aber nicht allzu weit 

Eine Norm formuliert einen Soll-Zustand. Insofern muss sie vom Ist-Zustand abweichen, wenn sie Wandel erzeugen soll. Im Irak war – und ist – das Problem, dass die unter US-Kontrolle eingeführten Normen der Demokratie, des Rechtsstaates und der Gleichheit von Individuen und Ethnien eine viel zu grosse Distanz zur Wirklichkeit aufwiesen und teils in eklatantem Widerspruch zu den lokalen Werten und Gewohnheiten standen. Auf die Dauer wird jede Norm vom Beharrungsvermögen der Kultur zerrieben oder zum toten Buchstaben, wenn die Menschen, die sie anwenden sollten, sie nicht akzeptieren. Im Irak kam hinzu, dass die neuen Normen mächtigen lokalen Interessen zuwiderliefen. Für Unternehmensleiterinnen und -leiter bedeutet dies: Wenn Ihr Normen für einen gezielten Wandel einsetzen wollt, dann wählt solche, die einen realistischen Anspruch formulieren und mit der Kultur der Organisation vereinbar sind. Sonst demotivieren Sie die Mitarbeitenden im besten Fall; im schlechtesten stacheln Sie diese zum Widerstand an.

Das Beispiel der von den USA versuchten Demokratisierung des Iraks ist in mancher Hinsicht krass: 

  • punkto Ambition und Scheitern des Wandels; 
  • punkto harter Macht, mit welcher er durchgesetzt werden sollte; 
  • punkto finanzieller Kosten und menschlicher Tragödien, die er verursachte; 
  • punkto Unfähigkeit und Unwillen der Entscheidungsträger, die Menschen für den Wandel zu gewinnen. 

Umso deutlicher wird hier im Grossen sichtbar, was im Kleinen (nicht) passieren sollte. 

Im nächsten Beitrag im SQS-Blog werden zwei Verhaltenswissenschaftler im Interview erklären, wie Unternehmensleiterinnen und -leiter ihre Macht intelligent einsetzen können, um mit ihren Mitarbeitenden den erwünschten Wandel zu erreichen: mit einer «Entscheidungsarchitektur», die aus Betroffenen Beteiligte macht. 

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