Management, SQS-Wissen

Revision der ISO 9001:2015: «Es gibt zwei fast gleich grosse Lager»

alex.gertschen@sqs.ch

Alex Gertschen

Veröffentlicht am: 05.09.2023

Lesedauer

ca. 4 Minuten

Die Norm ISO 9001:2015 zu Qualitätsmanagementsystemen wird revidiert. Thomas Krähenmann, der bei der SQS als freier Lead Auditor arbeitet, vertritt die Schweizerische Normen-Vereinigung (SNV) im für die Revision zuständigen ISO-Gremium. Im Interview erklärt er, warum die SNV sich in der entscheidenden Abstimmung der Stimme enthalten hat – und warum dies für die allgemeine Einschätzung der Revision kennzeichnend sei.

Thomas Krähenmann, warum wird die Norm ISO 9001:2015 revidiert?

Wir haben im Juli im zuständigen Subkomitee TC176/SC2 darüber abgestimmt. Eine knappe Mehrheit war dafür.

Wie hat die Schweizerische Normen-Vereinigung (SNV) abgestimmt?

Wir haben uns der Stimme enthalten, weil sich im zuständigen SNV-Normenkomitee 140 nur eine einfache, aber nicht die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit für die Revision ausgesprochen hatte.

Thomas Krähenmann Portrait

Thomas Krähenmann, SQS-Auditor, SNV-Vertreter im ISO-Komitee für Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung und Inhaber von CRETHO Consulting

Warum?

Sowohl in der Schweiz als auch international gibt es zwei fast gleich grosse Lager. Das eine ist aus zwei Gründen gegen eine Revision: Es argumentiert, dass der Revisionsbedarf nicht gegeben sei, weil eigentlich alles bereits in der Norm stehe. Zudem wird ein unverhältnismässiger Aufwand für die Anwender befürchtet.

Wie argumentiert das andere Lager?

Dass sich seit der letzten Revision von 2015 vieles verändert habe und «man mit der Zeit gehen» müsse. Zudem hat man auf die rund 400 Kommentare verwiesen, die im Anschluss an die letzte ordentliche Überprüfung im Jahr 2020 eingegangen waren. 

Die nächste wäre erst 2025 erfolgt.

Genau. Die Managementsystem-Normen der ISO werden in der Regel alle fünf Jahre auf ihre Revisionsbedürftigkeit hin geprüft. 2020 war das Pro-Lager eben noch knapp in der Minderheit. Dass solche Abstimmungen so knapp ausfallen, kann man als «historisch» bezeichnen, weil sich die Expertinnen und Experten gewöhnlich einig werden. Deshalb führte die ISO nach der Abstimmung eine Umfrage durch, bei der die erwähnten rund 400 Kommentare und Änderungsanregungen eingingen.

Was sind die wichtigsten Änderungsanregungen?

Sie sind sehr unterschiedlicher Art. Zum Beispiel müssen viele Begriffe erst noch definiert werden, obwohl sie in Normen zu Qualitätsmanagement und Qualitätssicherung bereits verwendet werden. Das zeigt den Nachholbedarf. Auch der Risikobegriff wird höchstwahrscheinlich angepasst werden.

Inwiefern?

Weil er seit der Revision von 2015 ausgesprochen positiv konnotiert war, als Bestandteil des Unternehmertums und deshalb als eigentliche Chance. Das führte zu Problemen im Audit: Wenn ein Anwender nur negative Risiken anführte – im Sinne von Risiken, wie wir sie in der Umgangssprache verstehen –, dann gab es einen Hinweis, weil die «positiven Risiken» fehlten. Damit hängt etwas Anderes zusammen: Es besteht ein breiter Konsens, dass wir das risikobasierte mit einem chancenbasierten Denken ergänzen müssen. Neben der Risiko- bedarf es einer Chancenanalyse. Diese Änderungen gehen wir in enger Koordination mit dem für das Risikomanagement zuständigen ISO-Komitee an.

Das klingt alles in allem aber nicht gerade nach einer grossen Revision.

Es gibt zwei weitere Themenbereiche. Zum einen verlangt die ISO, dass bei allen Normenanpassungen die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung (die Sustainable Development Goals, kurz SDGs, Anm. d. Red.) zu berücksichtigen sind. Bei der Revision von 2015 waren diese erst in Erarbeitung. Zum anderen sollen zahlreiche Entwicklungen und Themen mit dem Qualitätsmanagement verknüpft werden. Diese Palette ist sehr breit. Sie reicht von der Kreislaufwirtschaft über die Customer Experience und Künstlicher Intelligenz bis hin zu Organisationskultur.

Das wiederum klingt nach einer ausufernden Revision!

Qualität ist halt ein Querschnittsthema, das in jedem Prozess vorkommt. Nehmen Sie das Beispiel der Kreislaufwirtschaft: Wie ich Qualität definiere und sicherstelle, ist entscheidend für die Lebenszyklen von Waschmaschinen, Handys und vielen anderen Produkten. Die ISO 9001 bietet deshalb einen Hebel, um die Wirtschaft zirkulärer zu machen.

Auf was für eine Revision müssen sich die Anwender also einstellen?

Das ist wirklich schwer abzuschätzen. Von einer kleinen bis zu einer grossen Revision ist vieles möglich. Ich persönlich finde, dass eine grosse Revision angezeigt wäre. Aber politisch wird sie schwer durchsetzbar sein, weil eben viele Stakeholder grundsätzlich gegen eine Revision sind. In dieser Situation spielt der oder die Convenor/in eine sehr wichtige Rolle.

Wer ist das?

Die Person, die vom Subkomitee TC176/SC2 mit der Bildung und Leitung der zuständigen Arbeitsgruppe beauftragt wird. Dieser Prozess läuft zurzeit. Wenn die Person die Revision stark befürwortet, sind die Chancen für umfangreichere Änderungen sicherlich grösser.

Stehen Sie als Kandidat zur Verfügung?

Nein. Aber ich würde mich freuen, in der Arbeitsgruppe mitzuwirken, um die Schweizer Perspektive und Expertise einzubringen.

Wann dürfte die Revision abgeschlossen sein?

Auch das ist schwer abzuschätzen! In gewissen Themen – zum Beispiel in der Überarbeitung des Risikobegriffs – sind wir dank wichtiger Vorarbeiten schon fortgeschritten. Aber das Projekt startet offiziell erst dann, wenn das sog. New Work Item Proposal angenommen ist (vgl. Grafik, Anm. d. Red.). Es steckt die Themen und die Dauer der Revision ab, die 24, 36 oder gar 48 Monate betragen kann. Und dieses Proposal wird vom künftigen Convenor erst erarbeitet werden müssen. Einen Abschluss der Revision erwarte ich deshalb allerfrühestens Ende 2025. Realistischer ist 2026.

Legende: Diese Grafik beschreibt, wie eine ISO-Norm in der Regel entwickelt wird. In der ausserordentlichen Revision der ISO 9001:2015 wird die Arbeitsgruppe noch vor der Erarbeitung und Annahme des Projektes (New Work Item Proposal) gebildet. Die Grafik ist dem von der SQS publizierten Buch «Räderwerke der Normalität. Wie Normen und Standards Vertrauen schaffen» entnommen (vgl. hier).

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Teil 1: die entscheidenden Akteure in den Revisionsprozessen
Teil 2: Hintergründe und Stossrichtung der ISO-9001-Revision (dieser Artikel)
Teil 3: Hintergründe und Stossrichtung der ISO-14001-Revision

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