Management, International anerkannt

Im Spannungsfeld zwischen Standardisierung und Innovation: das Beispiel des «hidden champion» SFS Group

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Gerald Hosp

Veröffentlicht am: 21.05.2023

Lesedauer

ca. 5 Minuten

Standards ermöglichen oder erleichtern den Zugang zu ausländischen Märkten und internationalen Wertschöpfungsketten. Zugleich ist für Unternehmen im Hochpreisland Schweiz klar: Im Markt besteht nicht, wer nur die normierten Anforderungen erfüllt. Die SFS Group zeigt, wie der Spagat zwischen Standardisierung und Innovation gelingen kann.

Die SFS Group ist einer jener «hidden champions», für die die Schweiz bekannt ist. Für sie gilt der Begriff des versteckten Weltmarktführers ganz besonders: Die Produkte des Industrieunternehmens stecken in Smartphones, Werkzeugen, Gebäudehüllen, Kühlschränken, Autos, Flugzeugen, Implantaten und medizinischen Geräten – um nur einige zu nennen. Häufig sind es kleine unscheinbare Komponenten und Baugruppen, die von den Endkonsumentinnen und Endkonsumenten unbemerkt bleiben. Ohne diese Präzisionsformteile würden aber Smartphones nicht zusammenhalten, Gebäude würden ihre Fassaden verlieren oder das Antiblockiersystem (ABS) von Autos würde nicht funktionieren. 

René Buschor ist der Verantwortliche für das Qualitätsmanagement der ganzen Gruppe und ihrer Division Automotive. Er kann als einer der Gralshüter der Normen und Standards bei SFS bezeichnet werden. «SFS hat eine der ersten Kundennummern bei der Schweizer Zertifizierungsgesellschaft SQS», erzählt er stolz. Qualitätsmanagement und zertifizierte Prozesse gehören zur DNA der Firma.  

SFS Logo

Zur SFS Group

Die SFS Group hat ihre Ursprünge in der 1928 in Altstätten im St.Galler Rheintal gegründeten Eisenwarenhandlung Stadler. Den Startschuss für die Industrieproduktion und die Exporttätigkeit gab die Eröffnung des Presswerks 1960 im benachbarten Heerbrugg, wo heute der seit 2014 börsenkotierte Konzern seinen Hauptsitz hat. Mit rund 140 Standorten in mehr als 30 Ländern, Produktionsstätten in Europa, Nordamerika und Asien und rund 13 500 Mitarbeitenden weltweit ist die SFS Group weit über das Rheintal hinausgewachsen. Sie erzielte 2022 einen Umsatz von 2,75 Mrd. Franken. 

Standards einhalten, um international mitzuhalten 

Buschor war noch Lehrling, als er in den 1980er-Jahren dem Verantwortlichen bei SFS über die Schulter schauen konnte, der die Grundlagen für die Zertifizierungsprozesse innerhalb des Unternehmens aufbaute. Die Mühsal, ein Qualitätsmanagementsystem aufzubauen, nahmen die Ostschweizer zunächst vor allem für die Produktion von Baubefestigern für Gebäudehüllen auf sich. Darunter sind heute Unterkonstruktionen aus Metall, Nieten, Schrauben und Verbindungsteile zu verstehen, mit denen Fassadenpaneele fixiert oder Fenstersysteme befestigt werden. Die Fertigung war auf den heimischen Markt ausgerichtet. Die Überlegung, Standards einhalten zu müssen, um international mithalten zu können, stand noch nicht im Vordergrund. Dies änderte sich mit dem Einstieg in die Automobilbranche. 

«Der Einfluss und der Umfang von Normen in der Automobilbranche haben eine andere Dimension», sagt Buschor. Auch in anderen Branchen sind die Ansprüche hoch, bei den Automobilherstellern und ihren Zulieferern steigert sich das aber enorm. Das hat handfeste Gründe: Viele der Komponenten, die in Autos verarbeitet werden, sind «sicherheitsrelevant». Das heisst, wenn diese Teile fehlerhaft sind, kann es zu Unfällen mit ernsthaften Folgen kommen. Und wenn auch die Probleme nach der Auslieferung der Autos früh genug erkannt werden, kann das schmerzliche Auswirkungen haben: Kein Lieferant möchte dafür verantwortlich sein, dass unzählige Autos zurückgerufen werden müssen, weil ein Defekt ab Werk vorhanden ist. Der finanzielle Schaden einer Rückrufaktion kann dabei riesengross sein.

Celentano Massimo

Massimo
Celentano

Leiter Key Account Management, Division Automotive. 
(Foto: zvg)

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René Buschor 
Leiter QM der SFS Group und ihrer Division Automotive. 
(Foto: zvg)

SFS Headerbild SQS Blog 2

Der Standort Heerbrugg der SFS Group im St. Galler Rheintal. (Foto: zvg)

Jeder und jede muss Verbesserungsvorschläge einbringen 

Wie kommen aber in einer normierten Welt Innovationen zustande? Ein Industrieunternehmen wie SFS, das in einem hart umkämpften Geschäft tätig ist, muss mit Innovationen dafür sorgen, dass die Abnehmer gute Preise für Neuerungen und hohe Qualität zu zahlen bereit sind. René Buschor hat eine normierte Antwort darauf, wie Innovationen angeregt werden: Jeder Mitarbeitende ist angehalten, Verbesserungen einzubringen. Am Standort in Heerbrugg (SG) werden beispielsweise von den Mitarbeitenden im Automobilbereich vier Verbesserungsvorschläge pro Jahr eingefordert. 

«Wenn ich etwas gelernt habe, ist es das: Ohne eine konkrete Zahl passiert wenig», sagt Buschor im Brustton der Überzeugung. Dabei geht es nicht darum, genau auf diese Zahl zu kommen: Vielmehr sollen die Mitarbeiter dazu motiviert werden, zu tüfteln und Vorschläge zu formulieren. Nicht jede Einreichung ist ein Volltreffer, die Masse macht es. Dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass auch ein «Big bang» dabei ist – eine Idee, die die Qualität erhöht, immense Kosten einspart oder Prozesse erleichtert. 

Banale Änderung, grosse Wirkung 

Bei einem Zulieferer wie SFS sind die Produkte meist vorgegeben. Die Automobilfirmen, Elektronik- und Medizinaltechnikunternehmen bestimmen den grössten Teil der Spezifikation einer Komponente. Die Innovationen fallen vor allem bei der Entwicklung der Produktionsprozesse und den Abläufen innerhalb von SFS an. Massimo Celentano, der Leiter des Key Account Managements der Division Automotive, nennt ein Beispiel: Weil der Winkel beim Bohren geändert worden sei, hätte man bei einem bestimmten Metallteil die Zeit, um ein Loch zu erstellen, von sieben auf zwei Sekunden reduzieren können. Manchmal seien es banale Sachen, die grosse Auswirkungen hätten. 

Ständige Verbesserung und Standardisierung sind bei SFS kein Widerspruch. Das Unternehmen zeigt, dass Sisyphus, wäre er Ostschweizer gewesen, den Stein nach oben gebracht hätte. In der griechischen Mythologie muss Sisyphus als Strafe der Götter einen Felsblock auf einen Berg hinaufwälzen, der jedes Mal wieder ins Tal rollt, knapp bevor der Gipfel erreicht wird. Im Fall von SFS ist die stete Verbesserung der Felsblock, der nach oben gestossen wird. Auf der Strecke nach oben dienen dann Standardisierungen als Keile, um zu verhindern, dass der Fels wieder zurückrollt. Mithilfe neu entstandener Prozesse werden die Verbesserungen permanent gemacht. 

Standards dienen der SFS Group als «Keile», die Verbesserungen absichern und so verhindern, dass Prozesse und 
Praktiken auf ein tieferes Niveau «zurückrollen». (zvg)

Innovationen mit dem Kunden entwickeln 

Für das Ostschweizer Unternehmen sind Innovationen aber nicht nur eine interne Angelegenheit zur Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen. Vielmehr gilt es, sich auch beim Kunden innovativ einzubringen. SFS betrachtet dabei die Gesamtkosten, die beim Kunden für die Erstellung eines Endprodukts anfallen. Häufig betragen die direkten Kosten der SFS-Produkte weniger als ein Prozent an diesen Gesamtkosten. Die Fokussierung auf diese direkten Kosten bietet deshalb wenig Verbesserungspotenzial. Und hier setzt das Unternehmen an: Zusammen mit dem Kunden werden Produkte, Prozesse und digitale Lösungen entwickelt und aufeinander abgestimmt. So entstehen massgeschneiderte Lösungen, mit denen der Kunde seine Gesamtkosten senken kann – obwohl im Endprodukt mehr SFS-Wertschöpfung steckt (vgl. Grafik). 

Die SFS Group verfolgt den Ansatz, mittels massgeschneiderter und innovativer Lösungen die Gesamtkosten für den Kunden 
zu reduzieren. (zvg)

Vier Lehren aus dem Beispiel der SFS Group 

  1. Legen Sie eine bestimmte Anzahl Verbesserungsvorschläge fest, die die Mitarbeitenden pro Jahr einbringen sollen. Qualität läuft manchmal auch über Quantität. 
  2. Entwickeln Sie Innovationen nicht (nur) im «stillen Kämmerlein», sondern in der vertrauensvollen Zusammenarbeit mit dem Kunden. Das Ziel ist es, die Gesamtkosten des Kunden für das Endprodukt zu senken – und die eigene Wertschöpfung zu steigern. 
  3. Nutzen Sie Regeln als «Keile», um Verbesserungen abzusichern – damit der Stein der Innovation nicht wieder ins Tal rollt. 
  4. Machen Sie Qualitätsmanagement zur Chefsache. Die Unterstützung der Geschäftsleitung ist nicht hinreichend, aber notwendig für eine gelebte und effektive Qualitätskultur im Unternehmen. 

Räderwerke der Normalität

Dieser Text beruht auf einem Beitrag, den der NZZ-Redaktor Gerald Hosp für das Buch «Räderwerke der Normalität. Wie Normen und Standards Vertrauen schaffen» geschrieben hat. Die SQS gibt das Buch im Verlag NZZ Libro anlässlich ihres 40-jährigen Bestehens heraus. Es zeigt auf, wie Normen und Standards es Unternehmen sowie anderen Organisationen erlauben, hohe Erwartungen zuverlässig zu erfüllen – und so in der Schweiz zu einer Normalität beitragen, die alles andere als normal ist. Das Buch ist von Journalistinnen, Wissenschaftlern und weiteren Experten geschrieben worden und im Mai erschienen.

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